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Schreibaby

Nach der Geburt ist der erste Schrei ihres Babys wohl das schönste und wichtigste Geräusch, was Eltern hören wollen. Da ist er, der kleine Erdenbürger, auf den sie sich schon lange gefreut haben, sein Zimmer ist eingerichtet und ein schöner Namen ist ausgesucht worden. Die Tatsache, dass ihr Baby in Zukunft ab und zu weinen wird, weil es Hunger hat, es müde ist oder die Windel voll ist, darauf sind die Eltern meist vorbereitet. Doch ungefähr jedes 10. Baby weint und schreit viel intensiver, als es viele Eltern erwartet haben. Und dann kommen viele Familien an ihre Grenzen.

Hilfe für Familien mit gefühlsstarken Babys

ein Gastbeitrag von Marei Theunert – Diplom Pädagogin,
Systemische Therapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie

“Hallo Marei, ich habe ein Schreibaby und brauche dringend deine Hilfe! Mein Baby ist nun 4 Monate alt und lebt seit seiner Geburt nur auf uns. Er lässt sich so gut wie nie ablegen, sonst fängt er direkt an zu weinen. Unser Tag ist sehr anstrengend, ich trage unseren Sohn ständig in den Schlaf und nach kurzer Zeit ist er wieder wach. Auch unsere Nächte sind nicht besser. Ich habe das Gefühl er ist nur unzufrieden und ich kann nichts richtig machen. Wir waren schon beim Osteopathen, aber der hat nichts gefunden. Unser Kinderarzt spricht von Koliken und Regulationsstörungen. Das ganze hilft uns aber auch einfach nicht weiter. Was sollen wir tun?”

Emails wie diese erreichen mich fast täglich. Sehr berührende Nachrichten von Eltern, die an ihre Grenzen kommen, sich hilflos fühlen und das Gefühl haben, alles falsch zu machen. Oft sind sie schon über Begriffe wie Schreibaby, Regulationsstörung, 3 Monats Koliken gestolpert, der ein oder andere hat etwas von “highneed” und “gefühlsstark” gelesen. Doch was das genau heißt und was das dann für die Familie bedeutet, wissen die wenigsten.

Ist das normal?

Alle Babys weinen. Manche mehr, manche weniger (die meisten Eltern denken leider – dank sozialer Medien und Windelwerbung – eher viel weniger, als es tatsächlich ist). Durch Weinen wollen Säuglinge immer auf ein fehlendes Bedürfnis aufmerksam machen. In der Regel haben sie vorher schon versucht durch feine Zeichen und Signale darauf aufmerksam zu machen. Bekommen ihre Eltern diese nicht mit (Das ist übrigens auch nicht immer so leicht, wie es im Buch steht), müssen es die Kinder halt ein bisschen deutlicher machen. Das ist ganz normal. Auch ganz normal ist, dass die Häufigkeit des Schreiens meist mit 4 bis 6 Wochen zunimmt und dann mit 10 bis 12 Wochen verstärkt abnimmt. Unsere Babys brauchen Zeit in unserer Welt anzukommen, schließlich waren sie doch 9 Monate immer gut verpackt in unserem Bauch.

Ist mein Kind ein Schreibaby?


Einige Babys (ca. 10%) weinen jedoch deutlich mehr und intensiver. Verallgemeinert wird dies oft unter dem Begriff Schreibaby. Dies wird über allein über die Länge und Häufigkeit des Schreien oder weinen definiert. Ein Schreibaby weint per Definition mehr als 3 Stunden am Tag, über mehr als 3 Tage die Woche, über mehr als 3 Wochen am Stück. Leider verunsichert dieser Begriff viele Eltern (“Sollen es 3 Stunden am Stück sein?” “Wenn ich mein Kind aber durchgängig stille oder trage komme ich nicht auf 3 Stunden, ich finde es aber trotzdem anstrengend”…). Aus diesem Grund ist die Definition nicht sehr hilfreich.

Was ist dann mit der Regulationsstörung. Manche sprechen im gleichen Atemzug auch Dreimonatskolik. Bauchschmerzen sind jedoch deutlich seltener der Grund für exzessives Schreien, als es viele Kinderärzte, Hebammen und Eltern annehmen. Oft fehlt es unserem Kind eher an Möglichkeiten sich selbst zu beruhigen. Eltern beschreiben diese Kinder meist als sehr aufmerksam und wach, es fällt ihnen schwer abzuschalten und sie saugen alle Reize auf wie ein Schwamm. An Ruhe und Schlaf ist dann nicht mehr zu denken.

Da ein Baby noch nicht von alle dem erzählen kann, was es belastet, nutzt es seine eigene Sprache: Mimik, Körperausdruck und Weinen. Da dieses “laute Erzählen” oft nicht ganz verständlich und sehr anstrengend für Eltern ist, kommen sie irgendwann an ihre Grenze. “Ich weiß einfach nicht, was sie will. Sie schreit und schreit und ich kann nichts machen. Ich kann nicht mehr!” erzählt eine Mutter mir in unserer Beratung.

Für viele Familien beginnt hier ein Teufelskreis. Kaum stattfindende Auszeiten, das Gefühl, keiner kann helfen und das fehlende Wissen über Hilfsangebote lässt die Anspannung bei den Eltern immer mehr steigern. Unpassende Ratschläge von außen a la “Lass dein Kind einfach mal schreien” und “Ihr seid ja selbst Schuld, wenn ihr immer gleich springt” verunsichern Mütter und Väter und der Teufelskreis verfestigt sich immer mehr. Durch die hohe Anspannung und der Stress der Eltern, wächst auch das Unbehagen auf Seiten des Kindes und diese Kombination lässt die Eltern-Kind-Bindung oft leiden.

Highneed oder Gefühlsstark?

Der Kinderarzt Dr. William Sears entwickelte gemeinsam mit seiner Frau den Begriff “High need Baby” und sie prägten damit einen bedürfnisorientierten und liebevollen Blick auf das “Schreibaby”. In dem Ratgeber “The Fussy Baby Book” beschrieben sie High need Kinder u.a. als sehr intensiv, anspruchsvoll und hoch empfindsam. Sears beschreibt, dass bereits die Neugeborenen ihre Bedürfnisse deutlich lauter, eindringlicher und ausdauernder äußern als andere Babys. Sie wollen dauerhaft getragen, gestillt (gefüttert) und in Kontakt sein, was den Eltern oft viel Energie rauben kann. Auch häufiges aufwachen und Schwierigkeiten beim Einschlafen beschreibt das Ehepaar als Merkmale für das Highneed Baby. Es lässt sich schwer und wenn überhaupt von seiner nahen Bindungsperson beruhigen, Trennungssituationen fallen ihm sehr schwer. William Sears betont, dass es wichtig ist, diese Merkmale als Verhalten zu verstehen, was weder gut noch schlecht ist. Die Definition soll Eltern ermöglichen ihr Kind und seine Eigenschaften besser zu verstehen und akzeptieren.

Eine weitere Fachfrau, die einen einfühlsamen und wertschätzenden Blick auf unsere Kinder mit viel Temperament wirft ist Nora Imlau. Sie schreibt über gefühlsstarke Kinder und ihre Stärken. Und von all den Gefühlen, die diese sensiblen Wesen mit sich bringen, sowohl Wut und Verzweiflung, aber auch ganz viel Freude. Viele Eltern erzählen mir von dem schönsten und intensivsten Lachen, was sie je von einem Kind gehört haben. Auch das gehört zu diesen kleinen Erdenbürgern.

Was hilft?

Viele Eltern fragen mich: Ist mein Kind nun Highneed oder Gefühlsstark? Ich antworte ihnen das meist: Wie fühlt es sich denn an? Denn wichtig ist zu wissen: Dies sind keine Diagnosen! Es ist eine Zusammenfassung von Charaktereigenschaften.

Viel wichtiger als sich zu fragen ob es so ist, ist doch wie Familien besser mit der Sitution umgehen können? Wie geht es dem Kind und den Eltern in der aktuellen Situation? Fühlen sie sich gestresst, hilflos und überfordert? Haben sie das Gefühl sie wissen nicht weiter? Dann lohnt es sich gemeinsam als Familie neue Wege einzuschlagen.

  • Auszeiten und Aufgabenverteilung: Viele Mütter haben das Gefühl, sie müssen für alles zuständig sein: Baby, Haushalt, Familienorganisation…Ein gefühlsstarkes Kind kann jedoch über eine gewisse Zeit sehr viel Nähe abverlangen. Deshalb ist es wichtig, Aufgaben gut zu verteilen, sich evtl. auch externe Hilfe ins Haus zu holen, damit Mama oder Papa auch Zeit haben zu entspannen. Eine dauerhafte Anspannung ist weder für die Eltern noch für die Kinder gut.
  • Bindung stärken: Manche Eltern berichten davon, dass der Alltag nur noch anstrengend ist. Ich rate dann den Familien: “Achte auf die schönen und entspannten Momente mit deinem Kind. Nimm dir Zeit es zu beobachten, mit ihm zu sprechen und in Kontakt zu gehen. All das stärkt seine Fähigkeiten sich selbst wahrzunehmen.”
  • Weinen Begleiten: Manche Babys erzählen durch ihr weinen von einer traumatischen Geburt, von Bindungsunterbrechnungen und anstrengenden Tagen. Dann hilft manchmal auf kein Stillen und Tragen mehr. Ich erkläre es dann den Eltern meist so: “Nimm dein Kind in den Arm, sei da und höre ihm zu. Begleite liebevoll und entspannt die Geschichte die es dir erzählt. Diese Begleitung kann oft sehr emotional und anstrengend sein. Dafür ihr es wichtig in Verbindung zu sein.” Was das genau bedeutet ist sehr individuell.
  • Atmen und Entspannung: Das Weinen und Schreien unseres Kinder setzt uns schnell unter Druck und Anspannung. “Übe regelmäßig tief ein und aus zu atmen.” Die bewusste Atmung reduziert Stress und senkt den Blutdruck, es hilft mehr bei sich und in Verbindung zu bleiben.
  • Hilfe suchen: Bindungsorientierte Schreiambulanzen, Hebammen, Emotionale Erste Hilfe zählen unter anderen zu z.T. kostenlosen Hilfsangeboten für Familien mit einem Schreibaby. Es lohnt sich oft einen Fachkraft mit ins Boot zu holen. Jede Familie ist individuell und braucht unterschiedliche Hilfen. Mit Elbfamilienglück begleite ich seit 3 Jahren Familien achtsam und bedürfnisortiert hin zu einem entspannten Familienalltag.

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2 Kommentare

  1. Nele
    Mai 15, 2021 / 7:11 pm

    Vielen lieben Dank für diesen wunderschönen Beitrag. Ich hab uns selbst wieder erkannt. Wir haben uns bei Zeiten Hilfe bei der emotionellen Ersten Hilfe gesucht und ich bin mehr als glücklich über unsere tolle Hebamme, die uns telefonisch begleitet und tolle Ratschläge für das Leben mit einem gefühlsstarken Kind gibt.
    Ich kann nur jeder Familie mit Schreibaby/Highneed/gefühlsstarkem Kind den Rat geben – sucht euch Hilfe, wenn ihr an eure Grenzen kommt. Es ist nicht schlimm, diese in Anspruch zu nehmen. Ihr helft euch uns euren Kind damit mehr, als ihr vermutlich denkt.
    Ich persönlich gehe nun viel entspannter mit ihm um und der positive Effekt dabei ist, dass auch er entspannter und ausgeglichener ist.
    Da ich mit der Zeit seine Bedürfnisse besser kennenlernen konnte, merkt er auch, dass ich da bin, bei ihm bin und die Verbindung zwischen uns immer stärker wird. Ich bin mehr als zuversichtlich und irgendwo auch sehr froh darüber, eine so starke Persönlichkeit in ihm wachsen sehen zu können.

    Bleibt stark, unterstützt euch, zögert nicht Hilfe anzunehmen. Ich schicke allen Betroffenen viel Kraft!

    • HebAnja
      Juli 1, 2021 / 3:06 pm

      Liebe Nele,
      wir danken dir, für deinen so wertvollen Kommentar, der sicher vielen betroffenen Eltern weiterhelfen kann.

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